Donnerstag, 17. Januar 2019
Archiv. – Mein Bern-Tag. Die gleiche Arbeit wie zuhause, nur jetzt in einem Lesesaal und inmitten der Originale. Handschriften in Dossiers in Schachteln auf Wagen. Fein säuberlich. Gewohnheitsgast, dauerangemeldet. In den Blättern zu blättern ist ein Privileg und verdient Achtung. Die Arbeit wird hier ernstgenommen. So ernst, dass man sich nur flüsternd äussert. Man begrüsst sich flüsternd, bestellt flüsternd und verabschiedet sich flüsternd. Seitdem ich irgendwo gelesen habe, dass das Flüstern die Stimmbänder stärker beansprucht als lautes Reden, muss ich, flüsternd, ständig an meine Stimmbänder denken. Hoffentlich halten sie bis zum Abschluss meiner Arbeit durch.
Freitag, 18. Januar 2019
Einmal hatte ich die Phantasie … «dass ich über meine Bücher schreiben wollte. Eines nach dem andern aus dem Regal nehmen, darin blättern, ein paar Seiten lesen und nur, um mich zu erinnern, in einem oder auch mehreren Sätzen etwas zu diesem Buch festhalten, als eine Art Katalog, nicht zum Nachschlagen, sondern als unscheinbare Würdigung der oft über Jahre Vergessenen.»
Das war … eine Phantasie eben. Irgendwo auf diesem Portal festgehalten. Längst beseitigt. Unerwünscht und nicht realisierbar. Schön wär's aber trotzdem. Vielleicht, gemäss zunehmendem Alter, eher so: dass ich bei einem beliebigen Tablar beginne, die ersten paar Bände (ein halbes Dutzend zum Beispiel) herausnehme, eins davon wähle und ihm, stellvertretend für die Gruppe, einen Abdankungssatz widme. Und dann: aus dem Auge, aus dem Sinn. So müssten sich die Regale allmählich leeren, und der Rest meines Lebens wäre ein einziger Bestattungsritus. (Auskalkuliert hab ich's nicht!).
Dienstag, 22. Januar 2019
Editoren-Glück: Zuerst freut man sich über einen grossen Variantenreichtum und ein Eldorado von Autorkorrekturen (Prototyp: C.F. Meyer; ähnlich bei Raeber). Mit der Zeit, wenn's kein Ende nehmen will, beginnt man sich zu ärgern über die "Pedanterien". Bis man sich, nach einigem Abstand, wieder zu ereifern vermag.
Mittwoch, 23. Januar 2019
Editorenleid: Heute endlich bei J angelangt. Manuskript J. Genauer: J (Andere Fassung) – denn es gibt auch noch ein Manuskript J, das nicht die «andere Fassung» ist. Obwohl eigentlich diese «andere Fassung» spätestens bei H beginnt. Das geht so: Nach dem Durchlaufen von A, B, C, D, E und F hat der Autor mit G die gültige Stufe erreicht. Das ist ein Typoskript wert: ein Abtippen mit Schreibmaschine, so mühsam es sein mag. Das war am 18. Oktober 1954, einem Montag wie heute.
Heute also bin ich bei Fassung J (Andere Fassung) angelangt. Das musste sein. Denn der Autor hat trotz erreichter Fassung "G" weitergemacht und fünf Tage später erneut abgetippt (mit zwei Fingern, stell ich mir vor). Und dann zum Bleistift gegriffen und das schöne Typoskript wieder zu schanden gemacht. Schuld daran muss des Autors Bruder gewesen sein. Nicht so viele Inversionen, hat dieser gestöhnt, und der Autor hat sich ans Beseitigen der Inversionen gemacht: Bleistiftschleifen, die als Girlanden die Wörter umschlingen und weiter nach vorn, weiter nach hinten versetzen. In ihre "natürliche Stellung" bringen. Exakt am 7. November.
Und am zwanzigsten geht das Spiel weiter – und am zweiundzwanzigsten nochmals. Damit sind wir endlich bei der berüchtigten Fassung J (Andere Fassung) angelangt. Gott sei Dank! Doch dann steigt es (stell ich mir vor) in dem Autor auf, würgt ihn aus tiefem Innern heraus, reisst und zwickt, lange wohl, so lang, bis er überzeugt ist, dass das Inversions-Verbot doch nicht das Gelbe vom Ei war (die holprigen Silben!), so dass er nun plötzlich mit dem Rückbau beginnt. Zurück nach G! Das gibt Druck für den Druck. Und so endet denn die ganze Geschichte irgendwann im Jahre 1957, in dem das Buch erscheint, in dem das Gedicht steht, in dem sich die Inversonen tummeln.
Das hat vielleicht amüsant getönt. Ist es aber nicht. Ist Not und Pein, auch für den Herausgeber. Verflucht dieser Autor mit seiner verqueren, sich selbst demolierenden Pedanterie!
Donnerstag, 24. Januar 2019
Narrativ. – Das Unwort des letzten Jahrs. Treibt seine Blüten auch 2019. Spiegel-Interview mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger 2013: «gefühlte» (auch das ein Unwort) zwanzig Mal wird – beiderseits – das «Narrativ» strapaziert.
- «Es klingt also schlecht. Auch im Sinne des Narrativs …» Und sogleich zupackend der Interviewer: «Wäre es auch schlecht für das europäische Narrativ, für die EU als Ganzes?» usw. usf. Pech für den Diskurs, in den wir uns doch, unterm Diktat der Postmoderne, so mühsam eingelebt haben.
Montag, 28. Januar 2019
Lyrik-Festival. – Super, dass es sowas gibt. Ist mir lieber als das WEF. Vielleicht ist es sogar auch ein wenig wichtig. Wenn auch nicht so wichtig wie zum Beispiel …
Lyrik ist das schlechte Gewissen der Prosa. Das hat vielleicht mal jemand gesagt, der es wissen musste. Auf solche Sätze kommt man nur, wenn man Prosa schreibt, was aber kein Plädoyer für die Prosa ist.
Trotzdem: Auch ich habe, wie viele andere, Mühe mit der Lyrik. Jedenfalls, wenn sie gesprochen wird. Dann zerbröselt die Dichte, die das Gedicht als Einheit für sich behauptet, in eine Abfolge von Einzelmomenten. Auf diese konzentriert, entschwindet mir das Ganze aus Gehör und Blick. Ich scheitere. Jeder Gedichtvortrag bedeutet meinen persönlichen Schiffbruch. Nach einem Dutzend Versen steh ich als Robinson da, der sich ans Gesicht, ans immer hübscher werdende Gesicht der Vortragenden (wenn's eine Frau ist) klammert.
Vielleicht tröste ich mich über das Desaster hinweg, indem ich die Prosa kleinrede. Weil sie verständlich tut. Weil sie sich dicke Bücher anmasst. Weil sie die die Regale füllt. Weil sie die Bestsellerlisten okkupiert. Weil sie die Literaturgrüppchen nährt. Weil sie …
Es lebe die Lyrik! Nieder mit den Bestsellern!