Samstag, 22. September 2018
Walter Vogt: Altern (1981). – «Roman», in der mehrbändigen Werkausgabe heisst es: «Tagebuchroman» (keins von beidem ist es wohl). Altern, im Alter von fünfzig und etwas geschrieben. Vielleicht durch Frischs zweites (blaues) Tagebuch herausgefordert, das irgendwo etwas mehr als beiläufig erwähnt wird:
C. hat ein blaues Buch eines Zeitgenossen zur Besprechung zugeschickt bekommen – schön blau wie seinerzeit Frischs Zweites Tagebuch, das C. während unserer Marokkoreise lesen musste und der kleine Ahmed verwechselte es mit dem Guide bleu.
Eine von Vogts Stichel-Methoden, sich mit den Arrivierten abzufinden. (Frisch war zuzeiten seines Tagebuchs wenigstens sechzig und etwas, und in der vierten, «neubearbeiteten und stark erweiterten Auflage» des Kleinen literarischen Lexikons, das in meinem Regal steht, lebt er noch immer weiter).
Vorgezogenes Altern also: Altern mit fünfzig. Die Kapitel: «Später Sommer» / «Herbst» / «Tiefer Winter» (das umfangreichste!) – und, mit dem Gestus des Postumen, «Coda». (Kuno Raeber, auch ein Hypochonder ersten Ranges, hat sein Tagebuch eines Greises, mit 58 begonnen und firmiert seine Briefe an den Bruder schon 1968 – mit sechsundvierzig Jahren – mit «Greis"»**).
Und tatsächlich ist Vogts Altern auch das Buch eines Alternden. Es altert sogar von Seite 1 zu Seite 276. Sommerfrische am Anfang und Gequältes gegen Ende. (Psychologisch: Der Humor weicht der Angst).
• Sommer: Die herrlichen Charakterisierungen des Verhältnisses zu C. («Nein, mit C. ist man nicht allein»):***
Isst seine Fertigsuppe, mit Ei, langsam und gründlich, genau wie er schreibt. Legt sich nach dem Essen eine Weile gerade ausgestreckt auf den Rücken, wie ein mittelalterlicher Bischof in einem Sarkophag, und ruht.
• Herbst: Erinnerungsprosa
• Winter: «alle irrenhäuser sind gelb»
• Coda: «Meine Aufzeichnungen, finde ich, beginnen sich zu wiederholen. Ich muss einen Abschluss finden.»
Vogts Werk von den Ranken der Vergessenheit überwuchern zu lassen, ist eine Sünde und müsste geahndet werden. Kläger vor!
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** Dagegen: Raebers Ehefrau aus frühen Jahren freut sich 2014, als wirkliche Greisin:
«Im Westen / erfreuen mich / Krähen, Störche / bin köstlich umgeben». Schicksale!
*** Mittlerweile weiss ich sogar, wer C. ist. Das halbwegs Geahnte wurde mir gestern, an Walter Vogts dreissigstem Todestag (sagt man das so?), bestätigt. Und ich kenne C. Das ändert nicht nur die Lektüre, sondern auch die Wahrnehmung. Vermute ich.
Sonntag, 23. September 2018
Aphorismen. – Es gibt Autoren, deren Sätze zum Aphorismus neigen. Sie haben etwas Schlagkräftiges und fordern auf zum Zitat. Andere verweigern sich selbst dort, wo sie Statements vorbringen. Zu diesen gehört Kuno Raeber. Walter Vogt zählt zu den ersteren:
Epigramme speichern kann jede Amöbe, das kleinste Klümpchen lebende Substanz. Aber so zu vergessen, dass daraus Erinnern wird, das zeichnet das menschliche Gedächtnis aus.
(Vergessen und Erinnern, WA III, 20)
Dienstag, 25. September 2018
Bücher-Ohnmacht – Hin und her irrend vor meinen Bücherregalen: auf der Suche nach einem bestimmten Buch. Ein fast tägliches Versteckspiel, das die Bücher mit mir spielen. Das alte Problem: keine Ordnung, keine Sauordnung, sondern eine Nichtordnung, bestehend aus einer Menge von Ansätzen zu intendierten Subordnung. Alle mehr oder weniger steckengeblieben.
Krampfhaftes Suchen also, und dabei immer wieder stolpernd über Bücher, die ich noch nie gesehen zu haben meine, deren Autor ich kaum oder gar nicht mehr erinnere. Neue Bücher, die ich nicht zu kaufen brauche, aber meist auch heute nicht mehr kaufen würde. Ist das ein Anlass zur Besorgnis oder zur Freude? Wofür oder wogegen spricht das? Natürlich bin ich nicht der erste, der sich das fragt. Also lassen wir die Antwort.
Aber dann bleibe ich doch hängen an dem einen Regal mit der ganz speziellen Kombination: Drei Tablare (2.71 Meter) mit Computer-Handbüchern (die nicht-aktuellen, in denen die Elektronik sich selbst, auf Papier, überlebt hat), ein halbes Tablar, das dem Verlag Urs Engeler Editor gehört und drei Tablare des Stroemfeld Verlags. Mein einziges Verlagsregal! Die Stroemfeld-Tablare: Das ist mein – nein: der Stolperstein. Das Stroemfeld-Wildwuchs-Sortiment, dessen man nicht Herr werden kann: Kurzeck, Kretzen, Imhasly, Groddeck, Klaus Heinrich, Theweleit, von Ovid über das Matterhorn und die Fesseln der Liebe bis zur Erfindung der Gegenwart. Nicht zu reden von den ausgelagerten historisch-kritischen KTW-Editionen (Kafka, Keller, Kleist, Trakl, Walser) mit ihren unterschiedlichen Formaten, die ihre eigenen Ablagen fordern. Die ganze Stroemfelderei: eine eigene, nicht zu bändigende Bibliothek, die wächst und wächst (wenn auch in den letzten Jahren immer langsamer) – und nun plötzlich für immer zum Stillstand gekommen sein soll. Pleite: nicht weil meine Regale keinen Platz mehr haben (was stimmt), sondern weil es die Unerbittlichkeit des Marktes offenbar so diktiert hat. Und ich steh vor den Tablaren und weiss dem Verlag und mir nicht zu helfen.