Tagebuch - Dezember 2017

Montag, 1. Januar 2018

12:48 – Im Handke-Reservat eben zu jener Stelle gelangt, wo der Zug auf freiem Feld anhält und der Lokomotivführer samt Sohn neben den Geleisen pinkeln geht. Ein würdiges Schlussbild für das abgelaufene, von etlichen Leuten als "verschissen" titulierte Jahr.

 (Übrigens hindert der unversehens eingetretene Akt privater Notdurft Handkes Erzähler-Ich nicht daran, sich zu den beiden Akteuren zu gesellen und ihre Gespräche über das freudig erwartete Nachtmahl auszuhorchen.)

Wie ich überhaupt zu Handke (seinem letzten Buch) kam? Unbeabsichtigt, in Berlin, und auf Umwegen. Eine bekannte Buchhandlung in Charlottenburg besuchte ich, die von einer entfernten Verwandten Kuno Raebers, der nun mal mein derzeitiges Schicksal ist, geführt wird. Das Gespräch mit der Buchhändlerin brachte keine neuen Einsichten zu Raeber. Halbwegs aus Verlegenheit schaute ich mich darauf nach einem Buch um, das mich interessieren könnte und stieß dabei auf Handkes Roman. Erst jetzt erinnerte ich mich, dass Die Obstdiebin im Literarischen Quartett besprochen worden war, und zwar (von mindestens einer der Beteiligten) so abgrundtief verständnislos, dass es mir eine Empfehlung war, der ich hier, verspätet, ohne Zögern folgte. Denn natürlich: Handke ist – gottlob! – eine Zumutung.

 

Samstag, 30. Dezember 2017

Handke lesend, wird mir „ganz altmodisch“ zumute. Und bedauernd: dass mir, auf dem kurzen Einkaufsgang heute morgen, soviel „begegnet“ und so wenig „geblieben“ ist. Keine Zeit eingeräumt den einzelnen Dingen, um eine Geschichte zu werden.

Die Frau am Eingang zum COOP zum Beispiel, der ich nun endlich, da das Jahr endet, ein Strassenmagazin abkaufe, wofür sie sich untertänigst mit Bücklingen bedankt, was mir fast genau so peinlich ist, wie wenn ich mich an ihr vorbeidrücken würde (Wellen des Schuldgefühls ausschickend, die ihr enttäuschtes Gesicht spiegelnd auf mich zurückwürfe). – Oder der pensionierte Versicherungsagent (drei Herzinfarkte, weinrotes Gesicht), der an der MIGROS-Kasse hinter mir in der Schlange steht und mir einen guten Rutsch wünscht, so dass ich, zurückwitzelnd, vergesse, das Rückgeld entgegenzunehmen, was nun auch den Kassier zum Lächeln bringt.** – Oder das Bananenbündel, von dem ich drei Stück abbreche (nicht zu grün, nicht zu reif), sie in eines der Plastikssäckchen zwänge, die, mal für mal, von der Rolle (barbarischer Akt!) abgerissen werden müssen, worauf das Ganze auf einer der bereitstehenden Wagen zu wägen ist, unter gleichzeitigem Eintippen der Nummer 1 (bei Bananen immer die Nummer 1) und Bestätigen des Angewählten durch die OK-Taste, was den Apparat zum Ausspucken einer Etikette mit aufgedruckter Produkt- und Gewichtsangabe zwingt, die nun wiederum, als vorläufiger legitimierender Abschluss der Bananen-Kaufaktion, auf die Aussenseite des durchsichtigen Säckchens zu kleben ist. – Nicht zu reden von dem Eierkarton, dessen aufgestempeltes Datum (Lege-Tag, spätester Verkaufstag, Haltbarkeitstermin) mit dem Datum aller andern Kartons zu vergleichen ist (denn jederman will ja natürlich die frischesten Eier und angelt sich die Kartons aus dem Background des Regals, wo sie doch von der Verkäuferin extra versteckt wurden, damit die älteren, im Vordergrund aufgeschichteten, zuerst abgetragen werden).

Das aber ist alles erst der Input, das Material, und nun wäre es an mir, daraus die Geschichten zu formen, die zum Verweilen oder doch wenigstens zum langsameren Gang einladen würden, sofern sie denn … Doch das Jahr geht zu Ende, und ich muss mich beeilen.

 ** Oder die nette junge Dame (Optikerin?) im Brillengeschäft, die mir die reparierte Brille aushändigt und, wie ich diese sofort einstecken will, lächelnd empfiehlt, doch zu kontrollieren, ob die neue Schraube am Gestell auch wirklich in Ordnung sei.

** Oder die Prostituierten, die für dies eine Mal nicht bis zum Stopp-Strich der Quergasse zwischen den Läden vorstossen und für einmal nicht ihre Einladungen („Sie, junger Mann, hast du Lust?“) herüberschicken, so dass man ganz entspannt passieren kann und keine wie auch immer geartete abweisende Miene aufzusetzen braucht.

 

Donnerstag, 28. Dezember 2017

Gedicht des Monats:

Dieses Gedicht hat ein orthopädischer Schuhmacher
zertifiziert. Es hat auch eine Ausbildung zum Therapiehund
absolviert, denn sein Bedürfnis, anderen zu helfen, kennt

keine Grenzen zwischen Mensch und Tier und Text. Man
[…]

Aus: Dieses Buch trägt diesen Titel. Herausgegeben von sich selbst. roughbook 044. Wuppertal, Berlin und Schupfart. Dez. 2017, S. 52.

 

Mittwoch, 27. Dezember 2017

Handke lesen. – „Und wer war wohl der eine, der keine Krücken nötig hatte? Oder derjenige, dem auch eine Krücke nichts mehr nutzte? Ein … ich bringe das Neuwort nicht über die Lippen, kam für ihresgleichen nicht in Frage.“
Die drei Pünktchen: Da angelangt, ist mir, als Lesendem, schlagartig das Ausgesparte entfallen. Wegradiert vom hypnotischen Gestus der Handke-Sätze. Für ein, zwei, drei Minuten einfach weg. Dabei gehört es zu meinem Lieblingsvokabular: Kinderwagen und …, die Tram und Bus beschlagnahmen und sich gegenseitig den Platz streitig machen. Meine Vision: Der Endkampf zwischen … und den Kinderwagen. Und jetzt der eine Protagonist einfach wegradiert, und keine Eselsbrücke (worauf ich mich sowieso nur schlecht verstehe) hilft weiter.

Aber so ist es ja mit Handke. Dass er einem das Gebräuchliche entzieht und gleichsam mit einem Blindenstock durch das Alltägliche tastet, um dessen Gestalt auf dem Altar der inneren Wahrnehmung neu zu errichten. Viele werden aggressiv ob solch Blindtasterei, andere gehen in die Knie und horchen auf den Anschlag des Stöckchens. Und was mach ich damit?

 

Montag, 25. Dezember 2017

kudammAm Kuhdamm. – Wer kann mich denn bloß vom „Kuhdamm“ befreien, welche Lesart sich bei mir immer einstellt, wenn von besagter Sache die Rede ist? (Selbst der Q-Damm kommt nicht dagegen an.)

Dabei gibt es den prachtvollen Lichterhimmel, der ihn überkrönt und Freude Freude sprüht, so sehr, dass wir noch eine Extra-Kuhdamm-Fahrt wagen mitten durchs hellwogende Meer. Und unser Fahrer drückt auf den Knopf, und langsam, andächtig langsam gleitet das Dach zurück, und es bleibt da, über uns Aufschreckenden, die reine Glaswölbung, durch die es jetzt flimmert und flutet, als wär's Auferstehungszeit.

Wenn das kein Kuhdamm ist!

 

Samstag, 23. Dezember 2017

BerlinerEnsemle

Das BE vor der Blutorgie, die hier gleich stattfinden wird. Die Ehrfurcht, die das Gebäude gebietet, wird durch die Inszenierung – Der kaukasische Kreidekreis – alsbald ausgetrieben. Was bleibt, sind die Engel auf den Gesimsen, die, ungeachtet der Turbulenzen, die Flügel überm Ganzen breiten.