Glossen

Journalistische Sorgfalt, was soll's?

Ich bin ja auch einer von denen, die geglaubt haben, das kritische Edieren von literarischen Texten sei Grundlagenarbeit und daher sinnvoll und dienlich. Weit gefehlt. Wie alle Edierenden habe auch ich die Erfahrung gemacht, dass man zumindest das «dienlich» bei kritischen Ausgaben weitgehend vergessen kann. Das Edieren ist für Gott, nur er wird die Arbeit mit der ihr gebührenden Sorgfalt zur Kenntnis nehmen. So hoffe ich, obwohl ich nicht an ihn glaube. An die Menschen glaube ich aber noch weniger. Und schon gar nicht an die Journalisten (obwohl ich sie, im Gegensatz zu Gott, noch brauche). Und trotzdem kann ich mich immer aufs neue ärgern, wenn wieder irgendwo ein Text – ein geadelter, klassischer, vorbildlicher – auf schludrige Weise abgedruckt wird, als ob Texte Freiwild wären, das man nicht nur abschießen, sondern auch einfach anschießen und im verletzten Zustand liegen lassen darf.

Selbst in der NZZ, der solidesten der Zeitungen, gibt es diese wehrlosen, verletzten Gebilde. Und zwar ausgerechnet bei den Todesanzeigen; wer weiß von wem hingesetzt, als Erbauung, zum Trost. Es ist schön, natürlich ist es schön, wenn da so schlicht und einfach ein Gedicht von Matthias Claudius, Goethe, Eichendorff zu lesen steht. Ein klassisches Gedicht, für das niemand mehr das Copyright reklamiert. Aber es ist eben nicht schön, wenn man solche Gedichte an ihrer Verunstaltung leiden lässt. Und sei's auch eines von der Günderrode (Günderode), die sich selbst umgebracht hat, weil sie mit den Zumutungen der Welt nicht zurecht kam. Der Luftschiffer, zum Beispiel, ein Nachlasstext, am 4. Februar 2014 abgedruckt. Der Luftschiffer ergeht sich, echt romantisch, über zwölf Verse hinweg in überirdischen Gefilden, um dann zur Erde zurückgezwungen zu werden:

[…]

Aber ach! es ziehet mich hernieder,
Nebel überschleiert meinen Blick,
Und der Erde Grenzen seh' ich wieder,
Wolken treiben mich [zu ihr] zurück.

Wehe! Das Gesetz der Schwere
Es behauptet [nur → neu] sein Recht.
Keiner darf sich ihm entziehen
Von dem irdischen Geschlecht.

Im Original weist das Gedicht genau drei rhythmisch unterschiedliche Strophen auf: leichtfüßige Vierheber im Sphärenbereich («Gefahren bin ich in schwankendem Kahne»), fünfhebige Trochäen im Übergang («Aber ach! es ziehet mich hernieder») und trochäische Vierheber zum Schluss («Wehe! das Gesetz der Schwere»). Natürlich muss dementsprechend auch der letzte Vers der zweiten Strophe ein Fünfheber sein («Wolken treiben mich zu ihr zurück»). Und das Gesetz der Schwere, in der letzten Strophe, behauptet klarerweise «neu» sein Recht, nachdem es zuvor, im Äther, aufgehoben war.

Zwei fehlende Stropheneinschnitte, ein Rhythmusbruch und eine inhaltliche Sinnentstellung – auf nur zwanzig Zeilen. In der NZZ. Also doch: Die korrekten Texte sind einzig für Gott.

(Korrekturen nach: Karoline von Günderrode. Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. von Walter Morgenthaler. Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern 1990/91, Bd. 1, S. 390)