Aufsätze

Gottfried Kellers Jesuitenschelte

Ein unveröffentlichter Text aus der Zeit der Freischarenzüge

An Weihnachten 1844 erschien im Schweizerischen Republikaner, einem seit 1830 in Zürich verlegten radikal-liberalen Blatt, unter der Rubrik „Baselstadt“ folgende Mitteilung:

Das Basellandsch. Volksblatt theilt Einiges aus den Verhören mit, welche die Stadtbaseler zu bestehen hatten, die nach Luzern zogen; wir liefern unsern Lesern das kürzeste, das mit dem 60jährigen Schlosser Münch, einem ehemaligen Bellianer, vorgenommen wurde: Frage: Warum zoget Ihr gen Luzern? Antw. Um die verfluchten, verdammten Kaiben Jesuiten zum Teufel jagen zu helfen, die Kreuz-Erden-Himmel-Dunner-Wetter die. Frage: Truget Ihr Waffen? Antw. Ja wohl, meinen Stutzer, den ich bei Vögtli auf'm Birsfelde habe stehen lassen, weil ich ihn wahrscheinlich bald wieder brauchen werde, und einen Hirschfänger, woran ich gerne alle Jesuiten spießen möchte, wenn ich könnte. Frage: Waret Ihr für Euern Gang besoldet? Antw: Ja, wie vor 12 Jahren, als ich für Euch gegen die Landschaft auszog: Nichts, gar nichts habe ich erhalten. Ihr seid mir den Lohn auch noch schuldig. Vorgelesen und bestätigt. Tritt ab.

Bei den „Stadtbaselern“, die „nach Luzern zogen“, handelt es sich um Teilnehmer am ersten Freischarenzug der Liberal-Radikalen vom 8. Dezember 1844 gegen die konservative Luzerner Regierung. Diese hatte im Oktober die Jesuiten in die Leitung des Pfarrdienstes, des Priesterseminars und der theologischen Lehranstalt berufen, eine Kriegserklärung „gegen den Geist der Freiheit“ und „ein Angriff auf den Bund der Eidgenossen“, wie der Schweizerische Republikaner am 17. Dezember kommentierte. Der schlecht organisierte Feldzug scheiterte und zog in den konservativen Kantonen (darunter auch Baselstadt) obrigkeitliche Verhöre und Sanktionen gegenüber den Teilnehmern nach sich. Auch ein zweiter Feldzug im März 1845 endete mit einer Niederlage der Freischärler.

Gottfried Keller selbst war beide Male mit einem Zürcher Trupp ausgezogen, der es allerdings nie bis nach Luzern geschafft hatte. Die Seldwyler Erzählung Frau Regel Amrain und ihr Jüngster ironisiert zehn Jahre später diese Vorgänge in literarischer Form. Von noch ungebrochenem Engagement zeugen dagegen Kellers Gedichte aus der Mitte der 40er Jahre, aus der sein Debüt als politischer Lyriker datiert. Im Februar 1844 hatte die demokratische Zeitschrift Die freie Schweiz das Jesuitenlied (Hussa! Hussa! die Hatz geht los!“) zusammen mit einer Karikatur von Martin Disteli veröffentlicht. Diese früheste Publikation Kellers wurde 1845 unter dem Titel Loyola's wilde verwegene Jagd in das vom Literarischen Comptoir herausgegebene Deutsche Taschenbuch aufgenommen, 1846 auch in Kellers erstes Gedichtbändchen (Gedichte, erschienen bei C. F. Winter in Heidelberg). Als Dokument aus dieser streitbaren Zeit hat Keller das erwähnte Gedicht noch fast vierzig Jahre später in die Gesammelten Gedichte aufgenommen: unter der Abteilung Pandora (Antipanegyrisches“), diesmal mit dem historisierenden Titel Jesuitenzug. 1843.

Eine große Zahl von politischen Gedichten ähnlicher Tendenz wurde dagegen von Keller nie zur Publikation freigegeben. Sie finden sich v. a. in drei Schreibbüchern (Ms. GK 3, 4 und 9), in denen der Autor Entwürfe und Reinschriften für seine Gedichtpublikationen festhielt und die heute in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt werden. Das letzte dieser Schreibbücher (Ms. GK 9) enthält rund 120 Gedichte, die zwischen Dezember 1844 und Januar 1846 niedergeschrieben wurden. Viele davon wurden erst lange nach Keller Tod bekannt, v. a. durch Band 13 der von Jonas Fränkel 1926 begonnenen kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke.

Schlosser Münch in Basel

Bis heute kaum beachtet und nie vollständig publiziert wurde ein Text des Schreibbuchs (S. 18-20), der die Überschrift Schlosser Münch in Basel trägt und zwischen mehreren Anti-Jesuiten-Gedichten eingebettet ist. Es handelt sich um eine Hommage an den Freischärler Schlosser Münch, von dessen Verhör der Schweizerische Republikaner berichtet hatte: ein Mischgebilde aus gebundener und ungebundener Rede, das Editoren und Interpreten in einige Verlegenheit brachte. Einen Auszug der gereimten Partien brachte Max Kriesi in seiner 1918 erschienenen Publikation Gottfried Keller als Politiker (S. 82 f.). Von Jonas Fränkel wird der Text im Band der Nachlaßgedichte lediglich erwähnt, als „ein wort- und reimsprudelnder Ausbruch des Zornes wider die Jesuiten“ (Bd. 13, S. 478). Carl Helbling, der Fränkels Ausgabe fortsetzte, holte das Versäumnis teilweise nach, indem er die Verspartien und einen Teil der Prosa-Schimpftirade im Anhang von Bd. 22 (S. 424 f.) aufführte, aber so gut versteckt unter ganz anderen Dingen, daß niemand sie findet.

Kellers Text wurde erstmals im vollen Wortlaut mitgeteilt in dem nicht mehr greifbaren Sammelbändchen Der Gottfried-Keller-Rabe. Hrsg. von Joachim Kersten. Zürich: Haffmans 2000, S. 102-107.

Das Dokument ist über seinen zeitlich bedingten pamphletistischen Inhalt hinaus von allgemeinerem poetologischen Interesse. Daß es sich nicht um einen unkontrolliert niedergeschriebenen Zornesausbruch handelt, lassen die überarbeitenden Einfügungen über den Zeilen erkennen. An einer Stelle (über dem Wort „verschlimmerten) notierte Keller die Zahl 93: Diese entspricht genau der Anzahl der mit der Vorsilbe „ver-“ beginnenden Beiwörter, um die Keller das Eingangs-Muster (verfluchten verdamten“) des Münch-Zitates in der rhetorischen Tirade über sechzehn lange Handschriftenzeilen hinweg ausweitete.

Die textkritische Kommentierung des Dokumentes wird in der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe erfolgen. In der vorliegenden Darstellung beschränke ich mich auf einige inhaltliche Hinweise.

Mit der „hurensohn[rohmerlichen]“ Politik, die zur Schlußtirade überleitet, spielte Keller auf den aus Bayern stammenden Friedrich Rohmer (1814-1856) an, der ab 1841 Wortführer der konservativen Partei war, in deren Organ, dem Beobachter aus der östlichen Schweiz, publizierte und 1843, nach liberalen Presseangriffen gegen seine Umtriebe, die Schweiz verließ. Mit der „Rohmerei“ hängt auch der in Kellers Text erwähnte Verlust eines „Postens“ in Zürich zusammen: Der mit Rohmer befreundete Jurist Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) hatte im Dezember 1844 die Wahl zum Zürcher Bürgermeister gegen den Liberalen Ulrich Zehnder (1798-1877) verloren, was vom Schweizerischen Republikaner als eine „Erklärung gegen den Jesuitismus“ verstanden wurde (20.12.1844).

Diverse Polemiken in der liberalen Schweizer Presse hatte 1844 auch die Ausstellung des „heiligen Rockes zu Trier“ durch Bischolf Wilhelm Arnoldi ausgelöst. Keller selbst widmete im genannten Schreibbuch unter dem Datum „Februar 45“ (S. 26–27) den katholischen Dissidenten Johannes Ronge und Johann Czerski ein Gedicht, worin er sie lobte, „den tollen Faschingsrock“ zerrissen zu haben.

In der folgenden vereinfachten Transkription werden Worttilgungen durch eckige Klammern [...] und Einfügungen durch Spitzklammern <...> dargestellt. Innerhalb des Schreibverlaufs vorgenommene Sofortkorrekturen sind durch [...]¬ gekennzeichnet. Unsichere Entzifferungen sind durch kleinere kursive Type wiedergegeben. Zeilenumbrüche werden durch Schrägstrich (/) signalisiert, bei Seitenwechsel ist die Seitenzahl angegeben. Kellers Unterstreichungen erfolgten (außer bei „schlechtverhehlten“) mit Bleistift. Der Prosateil wurde von Keller bis zum Ende von S. 19 diagonal mit schwarzer Tinte durchgestrichen, dann nochmals mit Bleistift, nun zusammen mit den vier vorangehenden (eingerückten) Strophen (ab „Nach Rabenaas und Galgenfrucht“).